Chronik 1960 bis 1975

1960

Anfang März 1960 wird der Wiesbadener Knabenchor mit etwa 30 stimmbegabten Jungen von Pfarrer Dr. Hugo Herrfurth, Ringkirche Wiesbaden, gegründet. Vorbild sind bekannte Knabenchöre wie der Thomanerchor in Leipzig, der Dresdener Kreuzchor, die Regensburger Domspatzen. Es ist dies nicht der Ansatz zu einem utopischen Höhenflug. Es steht von Anfang an fest, daß der Wiesbadener Knabenchor nicht mit einem Internatschor wie den genannten und auch noch mit einer derart langen Tradition und entsprechendem Rang im europäischen Musikleben konkurrieren kann. Schwerpunkt soll die Pflege der klassischen Meister der polyphonen Kirchenmusik wie Bach, Schütz, Sweelinck, Pachelbel sein, aber auch zeitgenössische Musik von Distler, Pepping, Micheelsen soll erarbeitet werden. Erste Konzerte finden im September und kurz vor Weihnachten in der Lutherkirche statt. Die Kritiken in den Wiesbadener Tageszeitungen sind einhellig ermutigend.

 

Breiten Raum nimmt von Anfang an das Bemühen um finanzielle Zuwendungen für die Chorarbeit ein. Das hat sich bis heute nicht geändert. Herr Dr. Herrfurth scheute keine Mühe, beim Magistrat der Stadt Wiesbaden, auch bei der Kirchenverwaltung um Unterstützung zu bitten. Auch die Geschäftswelt und die Banken werden auf die Arbeit des Knabenchores aufmerksam gemacht und unterstreichen bald ihr Interesse an der Arbeit mit Spenden, die helfen, den Chor auf eine solide materielle Basis zu stellen.


Als Novum für die Kirchenverwaltung gilt, daß es sich hier um einen Chor der evg. Gesamtgemeinde Wiesbaden handelt, der also keiner einzelnen Kirchengemeinde zugeordnet ist. Ihm gehören Jungen aus dem gesamten Stadtgebiet von Wiesbaden an.


Rose-Marie Stoye bei der Stimmbildung
Rose-Marie Stoye bei der Stimmbildung

1961

Zwei Konzertreisen werden durchgeführt. Die eine führt nach Haiger, Dillenburg, Oppenheim (Katharinenkirche), Mainz (Johanniskirche) und Schlangenbad, die zweite nach Wiesbaden-Biebrich (Hauptkirche), Darmstadt (Pauluskirche), Bad Schwalbach und wiederum Schlangenbad. Dazu bestreitet der Knabenchor mehrere Gottesdienstsingen und zwei Konzerte in Wiesbaden.


Der Chor erhält seine Chorkleidung: Für den Sommer eine weiße Matrosenbluse und eine kurze blaue Leinenhose, für den Winter einen Matrosenanzug aus dunkelblauem Wollstoff. Die Wahl der Kleidung findet nicht ungeteilte Zustimmung.

Anfang des Jahres wird ein Vorkurs und der Vorchor für Jungen ab etwa 9 Jahre zur stimmtechnischen Unterweisung eingerichtet. Dieser Aufgabe nimmt sich Frau Rose-Marie Stoye an, die sich auch heute noch mit großem Engagement und hohem fachlichen Können diesem Dienst widmet.


In Weisenau findet eine Singarbeitstagung statt, damit wird die Tradition der Singefreizeiten eingeleitet, heute ein festes Datum im Jahresablauf des Knabenchores.


1962

Zwei Konzerte finden in Wiesbaden statt: Die Bachmotette "Jesu meine Freude" und das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.


Erste Nachwuchssorgen stellen sich ein, es werden vor allem Männerstimmen gesucht.


1963

Der Knabenchor ist auf 50 Jungen angewachsen. Bereits im Januar konzertiert er zusammen mit dem Orchester des Wiesbadener Konservatoriums im Wiesbadener Kurhaus. Zur Aufführung gelangen Werke großer Meister: Bach, Orlando di Lasso, Schütz, Pepping u.a.


Sänger im Matrosenanzug zur Chorprobe mit Konrad-Jürgen Kleinicke
Sänger im Matrosenanzug zur Chorprobe mit Konrad-Jürgen Kleinicke

1964

Konrad-Jürgen Kleinicke übernimmt im Frühjahr die Leitung des Knabenchores.


Der 70. Geburtstag von Pfarrer Dr.Herrfurth markiert den Beginn des Wirkens von Konrad-Jürgen Kleinicke. Mit einer klingenden Gratulation in der Stephanuskirche feiert der Knabenchor seinen Gründer.

Ständchen für Pfarrer Herrfurth, 1964
Ständchen für Pfarrer Herrfurth, 1964

Eine Zeit besonderer Arbeitsintensität sind alljährlich die Wochen vor Weihnachten: Gottesdienstsingen, Auftritte zur Adventszeit in Altersheimen, Krankenhäusern, das alljährliche Weihnachtskonzert und nicht zuletzt die chorinterne Weihnachtsfeier, die ihren Höhepunkt im Singen zur Christvesper am Heiligen Abend hat. Damit runden sich die von Pfarrer Dr.Hugo Herrfurth überkommenen und nun weiter gepflegten Aktivitäten in dieser Zeit ab.


1965

Neben der Mitwirkung bei zahlreichen Gottesdiensten begibt sich der Chor auf eine Konzertreise durch den Schwarzwald. Konzerte finden statt in Unterweissach und Hausach, in der modernen Stadtkirche von Bad Dürrheim, in Offenburg, in Schramberg und in der ehemaligen Benedektinerabtei Alpirsbach. Vor Beginn der Reise stellt der Knabenchor in einer Passionsmusik in der Oranier-Gedächtniskirche in Wiesbaden-Biebrich sein Repertoire in Ausschnitten vor.


Im Oktober wirkt der Knabenchor im Rahmen eines Jugendkonzertes im Kurhaus mit. Auf dem Programm stehen geistliche Motetten und Volksliedkantaten. Das Konzert findet im Rahmen der Wiesbadener Volksmusiktage statt.


Die Singefreizeit in den Herbstferien führt den Chor in die Lindenmühle (Jammertal).


1966

Zur Singefreizeit weilt der Chor um Ostern in Hilders/Rhön. Eine "ausgedehnte" Magen- und Darminfektion (mit über 40 Krankheitsfällen) zwingt zur Aufgabe einer Harz-Konzertreise, die für die Pfingstferien vorgesehen war. Stattdessen reist der Knabenchor über Pfingsten zu einer weiteren "konsolidierenden" Singefreizeit nach Bad Lauterberg in den Harz.

Auch dieses Jahr enthält zahlreiche Gottesdienstsingen. Musikalischer Höhepunkt ist im Herbst ein Kirchenmusikkonvent in Kloster Eberbach: Gemeinsames Singen mit der Laubacher Kantorei, der Hessischen Kantorei, der Kurrende der Christuskirche, der Bergkirchenkantorei Wiesbaden und der Schiersteiner Kantorei. Zu erwähnen ist schließlich das Motettensingen zum Ewigkeitssonntag in der Oranier-Gedächtniskirche mit Werken von Bach und Schütz.

Wiesbadener Knabenchor bedeutet nicht nur musikalisches Engagement, Beschäftigung mit klassischer und zeitgenössischer Kirchenmusik. Es ist ein Konzept zur Gestaltung der Freizeit, eine Ergänzung zur Schule und Ausbildung, ein Stück Heimat für die Knaben und jungen Männer, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung in der Musik, im Zusammensein mit den anderen, in der gegenseitigen Hilfe, etwa bei den Hausaufgaben, in gemeinsamen Unternehmungen wie Wanderungen, Radtouren, Festen, mit denen die Probenarbeit eingerahmt wird. So realisiert sich das pädagogische Konzept des Chorleiters. Ohne seinen persönlichen Einsatz, ohne seine natürliche Begabung zur unkonventionellen Leitung einer Jugendgruppe, ohne sein Improvisationstalent gäbe es diese Konzeption nicht. Ohne Übertreibung kann man sagen, hier vollzieht sich ein personifizierter Erziehungs- und Bildungsprozess. Nennen wir ihn das "Knabenchorprojekt".

Der Chor erhält 1966 eine neue, dem überwiegend kirchlichen Wirkungskreis angepaßte Kleidung. Die Matrosenanzüge werden von dunkelblauen Kurrendemänteln und in der Farbe passenden Trevira-Hosen abgelöst.

 

Aus dem Wiesbadener Tagblatt vom 16./17. November 1966:

Wiesbadener Knabenchor pflegt Tradition der Kurrende

Im äußeren Erscheinungsbild des Wiesbadener Knabenchors, der im Musikleben seiner Heimatstadt in den über sechs Jahren seines Bestehens zu einem festen Begriff geworden ist, vollzieht sich in diesen Tagen ein Wandel. An die Stelle der vertrauten, zur Sommerzeit weißen und im Winter dunklen Matrosenanzügen treten nunmehr dunkelblaue Kurrendemäntel (unser Foto).


Das Singen des Wiesbadener Knabenchors steht von Anfang an in der Tradition der berühmten mitteldeutschen Knabenchöre des 16. Und 17. Jahrhunderts. Die neuen Kurrendemäntel entsprechen dieser Tradition nun auch in der äußeren Form und haben gerade für sein Wirken in Wiesbaden ihre besondere Bedeutung: So wie die Torgauer Sängerknaben nach frühestem Nachweis schon im 16. Jahrhundert in ihrer Stadt – gemäß dem Wortsinn "Kurrende" – umherzogen, um bei weltlichen Festen, vor allem aber in den Gottesdiensten ihrer Kirchen zu singen, so zieht auch der Wiesbadener Knabenchor - drei Jahrhunderte später - in übergemeindlichen Dienst fast Sonntag für Sonntag in seiner Heimatstadt umher, um Gottesdienste und Konzerte singend zu gestalten.

Mit der Anschaffung der Kurrendemäntel, die zum erstenmal bei einem Bachmotetten-Abend in der Oranier-Gedächtniskirche Biebrich am Samstag vor Totensonntag getragen werden, ist also ein wirklich ungewöhnlicher Schritt getan.
Mit der Anschaffung der Kurrendemäntel, die zum erstenmal bei einem Bachmotetten-Abend in der Oranier-Gedächtniskirche Biebrich am Samstag vor Totensonntag getragen werden, ist also ein wirklich ungewöhnlicher Schritt getan.


1967

Der Knabenchor reist nach Espelkamp/Westfalen (18.3 - 1.4.). Der erste Teil wird als Konzertreise gestaltet, der zweite Teil als Singefreizeit. Die Konzerte finden in Herford, Lübbecke, Espelkamp, Bad Essen, Minden und Bad Oeynhausen statt und sind ein voller Erfolg – auch in der Presse. Hier ein Zitat aus den "Herforder Nachrichten":

>> Dank einer guten Stimmbildnerin, der Altistin Rose Marie Stoye, verfügt der Chor über einen kultivierten Klang, über eine tadellose Aussprache und eine dynamische Wendigkeit, die aufhorchen läßt. <<


1968

Der Wiesbadener Knabenchor bestreitet 12 Gottesdienstsingen in Wiesbadener Kirchen und wirkt bei 6 Konzerten mit. Die Singefreizeit findet erneut in Alpirsbach statt (29.3. - 8.4.). In intensiver und konzentrierter Probenarbeit, ergänzt durch – dem Ausgleich und der Entspannung dienende – Wanderungen, sowie Sport und Spiel, wird eine gute Grundlage für die weiteren künstlerischen Vorhaben des Chores in diesem Jahr geschaffen.

Der allgemeine Umbruch im pädagogischen Denken unserer Gesellschaft in den 60er Jahren ging am Wiesbadener Knabenchor nicht spurlos vorbei. Das bisher praktizierte Präfektensystem hielt seinem Hinterfragen nicht stand und wurde abgelöst.
Die Chorarbeit hatte dadurch bedingt in den beiden Jahren 1967/68 harte Autoritätskonflikte zu verkraften. Nach dem Ausscheiden fast aller Männerstimmen 1967 wurde jedoch ein erfolgreicher Neuansatz gefunden.


1969

Vom 29.3. - 13.4. findet eine Singefreizeit in Grävenwiesbach statt. Der Knabenchor wirkt an zahlreichen Gottesdiensten und Konzerten mit. Es ist ein Jahr mit wenig spektakulären Ereignissen, aber dennoch, vielleicht gerade aus diesem Grunde, ist es ausgefüllt mit konzentrierter musikalischer Arbeit.


1970

Im Frühjahr nimmt der Knabenchor an einem internationalen Wettbewerb in Montreux teil und erringt in Zusammenhang mit der Aufzeichnung eines Konzertes mit Bach- und Brucknermotetten in Genf durch den Genfer Rundfunk einen Ehrenpreis als bester Jugendchor.


Der Chor singt wie alle Jahre in zahlreichen Gottesdiensten. Vor allem zur Weihnachtszeit ist sein Terminkalender dicht gedrängt.


1971

Ein Jahr besonders fruchtbarer musikalischer Arbeit! Im Mittelpunkt stehen zwei Singefreizeiten: 27.3. - 10.4. auf Burg Breuberg und 26.10. - 31.10. in Waldmichelbach. Die Ostersingefreizeit dient vor allem der besonderen Förderung des Nachwuchses.

In der Stimmschulung und durch das Singen im Vorchor gut vorbereitet erfolgt im Rahmen der Singefreizeit die Integration des Nachwuchses in den Konzertchor. Dies ist nicht allein eine organisatorische Aufgabe, vielmehr geht es darum, den Knaben das Erlebnis des Respektiertwerdens, des Aufgenommenwerdens in die Gesamtchorgemeinschaft zu vermitteln. Die Singefreizeit ist dafür der pädagogische Ort.

Der Knabenchor singt in diesem Jahr auch in Gießen, Lollar, Oppenheim und im Kloster Eberbac. Als musikalischer Höhepunkt sei die Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach in der Stephanuskirche festgehalten.


1972

Es werden Werke von Schütz, Vulpius, Durante und Vivaldi (Gloriamesse) neu einstudiert. Der Vorbereitung dient eine Singefreizeit in Gersfeld/Rhön und eine Männerstimmenfreizeit im Kloster Höchst/Odw.
Im Herbst konzertiert der Chor in Göttingen, Helmstedt (zu Besuch bei den Helmstedter Chorknaben unter der Leitung des Kinderarztes DR.med.Israel) und Berlin-Kreuzberg (31.1. - 5.11.).


1973

Der Gründer des Knabenchores, Pfarrer Dr.Herrfurth, stirbt im Alter von 79 Jahren.


In den Osterferien verbringt der Chor erneut eine Singefreizeit in Bad Lauterberg im Harz, im Herbst probt er eine Woche intensiv in Idar-Oberstein. Im April kommt für einige Tage der Helmstedter Knabenchor zu einem Gegenbesuch nach Wiesbaden.

Die Pflege von Kontakten mit anderen Chören – national wie international, zu nennen sind Chöre aus Italien, Polen, Belgien, Bulgarien, neben Chören aus Göttingen, Lübeck und Hannover – ist eine wesentliche Komponente der Chorarbeit. Auf diese Weise werden nicht nur freundschaftliche Bande geknüpft. Es wird auch die Voraussetzung für Gegenbesuche des Wiesbadener Knabenchores geschaffen. Dadurch wird es möglich, über den Zaun zu schauen, den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern; ein wichtiger Mosaikstein im "pädagogischen Konzept" des Wiesbadener Knabenchores. Anläßlich derartiger Besuche anderer Chöre in Wiesbaden zeigt es sich, daß der Wiesbadener Knabenchor inzwischen zu einer großen Familie geworden ist, in der auch die Eltern der Sänger einen wichtigen Part spielen. Ohne deren Mithilfe, ohne ihre Gastfreundschaft gegenüber Chören aus anderen Städten wäre die Chorarbeit in der gegebenen Intensität nicht möglich...


1974

Der Knabenchor weitet seine Aktivitäten im ökumenischen Sinne aus. Die Mitgliederversammlung des "Wiesbadener Knabenchor e.V." (seit 1982 "Förderverein Wiesbadener Knabenchor e.V.) beschließt, in den Vorstand künftig auch einen Vertreter des katholischen Gesamtkirchenverbandes aufzunehmen.


Die Ostersingefreizeit findet in der Jugendherberge in Kirchheim/Teck statt, die Herbstsingefreizeit in Sargenroth im Hunsrück.


1975

Zu Ostern weilt der Chor in Villingen im Schwarzwald. Er konzertiert in der Umgebung von Villingen und Alpirsbach. Nach seiner Rückkehr wirkt er bei einer Aufführung der 3.Symphonie von Gustav Mahler im Kurhaus in Wiesbaden mit. Zahlreiche Gottesdienstsingen folgen. Im Herbst schließt sich ein weiterer Auftritt zusammen mit dem Chor der Stadt Wiesbaden und dem Hessischen Staatstheater in Wiesbaden an. Die Aufführung des Oratoriums "Christus am Ölberg" von Franz Liszt. Die Leitung hat wie schon bei dem Konzert mit Mahlers Symphonie GMD Prof. Köhler. Zu erwähnen sind noch zwei Konzertwochenenden in Waldböckelheim (organisiert von dem dort wohnenden ehem. Wiesbadener Zahnarzt und Förderer des Wiesbadener Knabenchores Dr. W. Pongs) und Remagen (angeregt durch den "Exsänger" Harald Becker, der dort seine neue Heimat gefunden hat).


Die Jahresarbeit schließt mit der Aufführung der "Weihnachtshistorie" von Schütz in der Marktkirche.

Ein mit viel Arbeit ausgefülltes Jahr! Aber das gilt für jedes Jahr. Der Wiesbadener Knabenchor verkörpert ein rundes, geschlossenes Programm, ohne Leerlauf, das seine Mitglieder voll beansprucht, sie aber auch mit Erlebnissen bei der Arbeit mit der Musik und in der Chorgemeinschaft belohnt, Ihnen damit ein Stück Lebensqualität schenkt.